von Ajla Selimovic und Lilian Hild
Martina K. Steiner ist 42 Jahre alt und seit sechs Jahren mit Leitungsverantwortung beim 24h-Frauennotruf der Stadt Wien tätig. Der Frauennotruf ist organisatorisch Teil der MA 57 – Frauenservice Wien. Davor war sie in einer internationalen NGO namens WAVE (Women Against Violence Europe), im Bundesministerium und im Referat Grundlagenarbeit der MA 57 – Frauenservice Wien tätig, wo sie sich mit den Themen Gewalt, Diversität und internationale Zusammenarbeit beschäftigte.
Was ist der Frauennotruf?
Der 24-Stunden Frauennotruf ist Anlaufstelle für Frauen und Mädchen ab 14 Jahren, die Gewalt erleben oder erlebt haben. Die Einrichtung unterstützt Frauen und Mädchen kostenlos in schwierigen Situationen im Zusammenhang mit Gewaltbetroffenheit und auf Wunsch auch anonym. Die Beraterinnen begleiten auch zur Polizei, ins Krankenhaus oder zu Gericht. Psychosoziale Prozessbegleitung sowie die Organisation der juristischen Prozessbegleitung gehören ebenfalls zum Portfolio. Das 9-köpfige Beratungsteam des Frauennotrufs ist mehrsprachig und multiprofessionell, bestehend aus Juristinnen, Sozialarbeiterinnen und Klinischen und Gesundheitspsychologinnen, die alle eine fundierte Kenntnis zu jedem Professionen-Bereich besitzen. Der Frauennotruf legt viel Wert auf In-House Fortbildung, daher können etwa auch alle Juristinnen in fundiertem Ausmaß psychologisch beraten und alle Psychologinnen haben ein gutes Verständnis über die Rechtsmaterie.
Hier ein Auszug aus dem Interview mit Martina K. Steiner zum Frauennotruf:

Photocredits: Foto Weinwurm
Wie viele Anrufe erreichen Sie durchschnittlich pro Tag und wann genau finden Ihre Beratungen statt?
Für das jetzt laufende Jahr 2019, kommen wir auf durchschnittlich 27 Beratungen pro Tag. Es sind um die 20 Anrufe, der Rest entfällt auf persönliche Beratung vor Ort in der Einrichtung und auf E-Mail-Beratung. Wir haben den Großteil (44%) der Beratungen zwischen 12 Uhr und 18 Uhr, das ist unsere Hauptberatungszeit. Fast 23% der telefonischen Beratungen finden zwischen 18 Uhr und 6 Uhr morgens statt. Da wir eine Rund-um-die-Uhr-Einrichtung sind, ist bei uns eigentlich ständig etwas los. Die persönlichen Beratungen erfolgen ab 8 Uhr und ziehen sich hauptsächlich bis 18 Uhr, nur 7% finden nach 18 Uhr statt. Da die Wochentage immer relativ gleich belastet sind, kommen wir im Durchschnitt an jedem Werktag auf eine gleich starke Beratungsleistung.
Wie viele Beratungen finden bei Ihnen statt?
Pro Jahr belaufen sich die Beratungen insgesamt auf etwa 10.000-11.000. 70% davon sind telefonische Beratungen, 20% E-Mail und 10% persönliche Beratungen. Das heißt, wir haben etwa 1.000 Beratungen, die bei uns persönlich vor Ort stattfinden. Wir nehmen uns mindestens eine Stunde pro Beratung Zeit. Darin inkludiert sind sehr ausführliche und intensive Vorbereitungsgespräche für Gerichtsverfahren, die wir zusammen mit einer Anwältin führen. Zeitlich komplex und sehr aufwändig wird es, wenn wir eine Dolmetscherin brauchen. Dies ist öfter der Fall und da kann eine Beratung auch zwei Stunden in Anspruch nehmen.
Was ist der häufigste Grund für Anrufe oder das Aufsuchen der Beratungsstelle?
Der häufigste Grund warum sich Klientinnen an uns wenden, ist sexualisierte Gewalt. 37% der Gewaltkontaktgründe sind sexualisierter Gewalt zuzuordnen, gefolgt von 33%, die psychische Gewalt betreffen. Körperliche Gewalt betreffen 29% und der verbleibende Rest fällt auf KO-Mittel und Zwangsheirat. Für das Thema Zwangsheirat gibt es in Wien eine ganz spezielle Einrichtung, weswegen wir davon betroffene Frauen weiterempfehlen. Im Falle von akuter Krise leisten wir Krisenintervention. Das häufigste Beratungsthema ist sexualisierte Gewalt an Frauen begangen durch: Partner, Ex-Partner, Männer aus dem sozialen Umfeld, Zufallsbekanntschaften oder durch Unbekannte. Der zweite große Themenkomplex ist die Gewalt in der Beziehung bzw. Gewalt durch aktuelle oder ehemalige Partner. Der dritte Themenkomplex ist Stalking. Stalking betreiben dann im Großteil ehemalige Partner oder Männer aus dem sozialen Umfeld.
Und wie viele Vorfälle betreffen davon U-Bahnen?
Schätzungsweise betreffen etwa 10% der Gewaltvorfälle bei den Erst-Gesprächen den öffentlichen Raum. Konkret sind es 5 bis10 Fälle pro Jahr, die tatsächlich Vorfälle in U-Bahnen betreffen. Viel häufiger sind unangenehme bis objektiv gefährliche Situationen am Weg vom öffentlichen Verkehrsmittel bis zum Haus. Es ist meistens nicht der unbekannte Täter, der die Frau beim Nachhauseweg verfolgt, sondern eine Person, die mit der Frau in irgendeiner Art und Weise in einem Beziehungskontext steht bzw. stand.
Wer genau ruft bei Ihnen an und weshalb?
Wir sind zwar der Frauennotruf, das heißt aber nicht, dass die Frauen nur dann anrufen, wenn ihnen der Partner gerade auflauert oder ihnen unmittelbar akute Gefahr bevorsteht. Wir sind keine Eingreiftruppe, die physisch interveniert. Wir sind eine Beratungsstelle und professionell für Frauen und Mädchen da, die Gewalt erleben oder in früherer Zeit erlebt haben sowie auch für jene, die vielleicht noch unklar darüber sind, ob das was sie erleben, bereits Gewalt ist. Beispielweise sind es Frauen, die Jahrzehnte in einer Beziehung leben, in der der Mann massiv kontrollierend ist, körperliche Gewalt ausübt und mitunter auch Sexualkontakte gegen den Willen der Frau einfordert. Diese ganz traditionellen – in der schlechtesten Art und Weise von Tradition geleiteten – Beziehungssysteme schlagen bei uns auf. Und nur um das klarzustellen: Traditionen oder entsprechendes Verhalten, das mit Tradition und Anspruch über jemand anderen gerechtfertigt wird, gibt es nicht nur in Zuwanderungsgesellschaften, sondern ebenso in der autochthonen Bevölkerung. Das ist im klassischen Sinn kein zeitlicher Notfall, aber für die Frau eine absolute Notlage.
Wie genau gehen Sie vor, wenn bei Ihnen ein Notfall oder ein Anruf reinkommt? Haben Sie eine bestimmte Vorgehensweise?
Einerseits gibt es bei uns Checklisten und in der Krisenberatung Formate, die beinhalten, welche Aspekte und Punkte abzufragen sind. Wir gehen aber nicht stur die Checkliste im Sinne der Reihenfolge durch. Diese werden an den/die AnruferIn und an die Situation angepasst, verwendet. Wenn Menschen anrufen, bei denen unmittelbare Gefahr bevorsteht, können wir nicht selber einschreiten. Dann ist es unsere Aufgabe, der Anruferin oder dem Anrufer zu vermitteln, dass sie unverzüglich die Polizei kontaktieren sollen, da nur diese Gefahr an Leib und Leben unmittelbar abwehren können. Sollte eine Frau anrufen, bei der wir erhöhtes Risiko der Selbstgefährdung (z.B. Suizidandrohung) oder massive Fremdgefährdung (z.B. mitbetroffene Minderjährige), dann gibt es natürlich ebenso klare Vorgaben.
Wie gehen sie in einer üblichen Beratungssituation vor, wenn die Frau das erste Mal bei Ihnen anruft?
In vielen Fällen sind die Frauen schwer traumatisiert, aber offensichtlich mutig genug und orientiert sich Hilfe zu holen. Das erste, was wir tun, ist, der Frau zuzuhören und Fragen zu stellen, damit sie uns die Situation schildert. Wenn wir feststellen, dass es keinen akuten Handlungsbedarf im Sinne von Einschreiten gibt, dann schauen wir, was die Frau benötigt und wie wir ihr in ihrer Situation helfen können. Wir sagen ihr, womit wir sie unterstützen können. Sei es psychologische Unterstützung, sozialarbeiterische oder rechtliche Beratung bis hin zur Unterstützung im Kontext der Prozessbegleitung. Wenn die Fragestellungen sehr komplex sind, laden wir die Klientin jedenfalls zu einem persönlichen Gespräch in die Beratungsstelle. Da können wir sie über mögliche nächste Schritte informieren sowie über erwartbare bzw. mögliche Konsequenzen. Auf Grundlage von Informationen sollte es dann für die Frau möglich sein, abzuwiegen, wie sie fortfahren möchte. Wenn eine höchst komplexe juristische Frage vorliegt, wird eher die Juristin diesen Termin wahrnehmen. Wenn wir sehen, es bedarf voraussichtlich überwiegende psychologischer Kompetenz, dann wird es nach Möglichkeit eine Psychologin die Beratung durchführen.
Können Sie uns über zukünftige Projekte etwas erzählen? Also, nichts Konkretes, aber in welche Richtung sie einschlagen möchten?
Beratung zu sexualisierter Gewalt ist quasi unsere Kernkompetenz, dieses Thema liegt seit Gründung des 24-Stunden Frauennotrufs vor nunmehr 24 Jahren quasi in „unserer“ DNA. Dem Thema „sexualisierte Gewalt“ wird daher auch abseits der Beratung selbstverständlich weiterhin großer Aufmerksamkeit gewidmet werden. Wir sind anerkannte Expertinnen zu diesem Thema im dichten Netz der Opferschutzeinrichtungen und Frauenberatungsstellen in Wien. Sexualisierte Gewalt an Frauen ist etwas, das in der Gesellschaft noch stark mit Mythen verbunden ist – nämlich im Sinne von Opferbetroffenheit. Es heißt, die Opfer seien selber schuld, wenn ihnen etwas passiert, denn sie haben sich ja offensichtlich „falsch“ verhalten. Sie haben zu viel getrunken, waren zu spät in der Nacht alleine unterwegs, sie suchen sich komischerweise immer die falschen Freunde, sie ziehen sich aufreizend an. Diese opferfeindlichen Einstellungen unserer Gesellschaft bedeuten im Umkehrschluss eine Entlastung der Täter. Wir haben es uns seit etlichen Jahren zur Aufgabe gemacht, an diesen Mythen zu arbeiten und die Gesellschaft zu sensibilisieren, aufzuzeigen, dass derartige Reaktionen unangemessen sind und überdacht werden müssen. Derartige Mythen werden als Erklärungsmodelle herangezogen, die uns von der Angst befreien, jederzeit Opfer werden zu können. Denn wenn ich davon ausgehe „Solange ich mich richtig verhalte, habe ich es im Griff und kann selber kontrollieren, was mir passiert“ fühle ich mich sicher.“ In Wahrheit kann jedoch jede Frau Opfer werden; egal wie „gut“ sie sich verhält. Ihr Verhalten ist nicht ausschlaggebend dafür, ob jemand an ihr Gewalt begeht oder nicht. Allein die Person, die Gewalt ausübt, kann sich entscheiden, diese zu unterlassen. Es liegt in seiner Verantwortung. Sie sehen, hier ist noch unglaublich viel zu tun.
Außerdem ist uns das Thema psychische Gewalt sehr wichtig. Psychische Gewalt hat, wenn es um Beziehungsgewalt geht, einen zentralen Stellenwert in der Beziehungsdynamik. Egal wo es körperliche oder sexualisierte Gewalt in Beziehungen gibt, gibt es auch immer psychische Gewalt, die wie alle anderen Gewaltformen, krank und handlungsunfähig machen kann. Leider ist psychische Gewalt in Österreich juristisch noch sehr schlecht erfasst. Die gefährliche Drohung und die beharrliche Verfolgung bzw. Stalking kann man zwar anzeigen, aber diese langandauernden, psychischen, in quälender und bösartiger Absicht vorgenommenen Handlungen einer Person über eine andere – sie zu kontrollieren, sie einzuschränken – diese werden nicht ernst genug genommen, weshalb wir es als essentiell sehen, an diesem Problem zu arbeiten.
Zudem werden wir nach wie vor mit unterschiedlichen Kampagnen auf unsere Einrichtung und auf andere ähnliche Einrichtungen aufmerksam machen. Nur wenn Frauen wissen, dass es uns gibt und wie sie uns erreichen, können sie sich Hilfe und Unterstützung holen. Wir möchten den Frauen und dem unterstützenden Umfeld vermitteln, dass sie uns vertrauen können und wir mit einem professionellen Hilfeangebot an ihrer Seite sind.
Zum Abschluss würden wir gerne wissen, ob sie sich an ein besonderes Ereignis oder einen Vorfall in Ihrer Laufzeit erinnern können?
Ja, da gibt es einige Fälle. Ich will jetzt aber nicht von einem ganz schrecklichen Ereignis erzählen, denn es gibt natürlich auch sehr viele gute Wendungen. Zunächst haben wir verzweifelte Frauen am Telefon, die in Angst leben und nicht mehr weiter wissen Nach einer bestimmten Zeit und der Beratung zu sehen, dass die Frau keine Gewalt mehr erleben muss, wieder ein selbstbestimmtes Leben führt und für sich und ihre Kinder ein schönes, sicheres Zuhause aufbauen konnte und dann zu hören, dass sie schön langsam wieder Freude am Leben hat und vielleicht sogar den einen oder anderen unbeschwerten Moment empfinden kann, das ist wirklich ein besonderes Erlebnis. Wir unterstützen Frauen wieder Regisseurinnen ihres eigenen Lebens zu werden. Ganz viele schaffen das, sie mobilisieren so viel Kraft, Ausdauer und Stärke – ich habe den größten Respekt vor ihnen.
Wir bedanken uns herzlichst bei Frau Martina K. Steiner und ihrem Team für das professionelle Engagement für gewaltbetroffene Frauen und Mädchen in Wien!
Kontaktdaten 24h-Frauennotruf Wien:
Telefon: 01 71719
http://www.frauennotruf.wien.at
frauennotruf@wien.at